Seit Anita vor achtzehn Jahren in das Haus an der Fernstraße eingezogen war, hat der Autoverkehr stark zugenommen. Ein kleiner Vorgarten und eine hüfthohe Hecke trennen das Haus von der Fahrbahn. Immer weniger Sträucher werden im Frühjahr grün und sie verlieren bereits im Sommer die Blätter. Zurück bleibt eine Hecke aus dürren Ästen. Der Fahrtwind schleudert den Split und die Sägespäne auf den Rasen im Vorgarten. Auf den Fensterbänken ihrer Wohnung im Erdgeschoss liegt ein Gemisch aus Öl, Rußpartikel und Staub. Wenn es schneit, ist der Schnee nach wenigen Tagen grauschwarz. Beim Kochen spürt sie hinter dem Küchenstore die Blicke der Fernfahrer auf ihrem Gesicht. Fährt ein LKW knapp an der Hecke vorbei, tritt sie instinktiv ein paar Schritte zurück. Die Gespräche mit ihrem Freund Bruno beim Mittagessen werden oft durch die Geräusche der Sattelschlepper unterbrochen. Er zieht sich auf die Bank hinter dem Haus zurück. Das Haus gehört seiner Mutter, die im Obergeschoss wohnt. Die überladenen LkW bringen den Boden zum Zittern. Die Erschütterungen spürt man in der Wohnung beim Sitzen, beim Liegen im Bett und sie lassen sie abends lange nicht einschlafen. In ihren Träumen kehrt eine Situation immer wieder: Ein LKW kommt in das Schleudern, fährt auf das Küchenfenster zu, durchbricht die Hausmauer und landet in der Küche. Sie ist zwischen Motorblock und Wohnzimmerwand eingeklemmt, der Fahrer beugt sich aus dem Autofenster und verlangt von ihr einen Kaffee.
Der Tag beginnt mit einer Lkw-Lawine. Anita wird von einem Grollen, einem hohem Pfeifton und dem ununterbrochenem Klappern eines Kanaldeckels aus dem Schlaf gerissen. Ohne auf den Radiowecker zu blicken weis sie, dass es fünf Uhr ist, Bruno sich im Bett umdrehen und ihr den Rücken zuwenden wird. Er wird die Bettdecke über seinen Kopf ziehen und weiterschlafen. Auch an Tagen mit LKW- Fahrverbot wird sie um die selbe Zeit wach, es ist ihr nicht möglich durchzuschlafen. Sie bleibt im Bett liegen, bis um sechs Uhr die Werkssirene in der naheliegenden Spannplattenfabrik den Schichtwechsel ankündigt. Nach dem Verstummen der Sirene beginnen ihre Katzen an der Schlafzimmertür zu kratzen. Anita erhebt sich, schlüpft in den grünen Morgenmantel und geht, ohne einen Blick auf Bruno zu werfen, aus dem Zimmer. Vor der Schlafzimmertür wird sie von den drei Katzen mit hochgestellten Schwänzen begrüßt. Die Katzen laufen durch die Diele in die Küche, wo sie das Dosenfutter erhalten. Anita bückt sich, streicht ihnen mehrmals über das Fell und lobt sie. Nach der Fütterung beginnt sie ihre Morgentoilette. Beim Frühstück legt die Katze Sissi ihren Kopf und ihre Vorderpfoten auf ihre Oberschenkel. Bei der ersten Berührung durch ihre Hand beginnt sie leise zu schnurren. Um halb acht Uhr verlässt Anita die Wohnung um ihren Halbtagsjob in der Annahmestelle einer Kleiderreinigung anzutreten. Vor dem Verlassen des Hauses kontrolliert sie, ob alle Fenster und Türen geschlossen sind.
Kommt Anita zu Mittag nach Hause, ist Bruno bereits aufgestanden und hat sich für seinen Nachmittagsdienst als Kellner im Burgcafe zurechtgemacht. Sie wärmt das vorgekochte Mittagessen auf. Bruno deckt den Tisch. Im Obergeschoss öffnet sich eine Tür und Brunos Mutter erkundigt sich, was es heute zum Essen gibt, bevor sie die Stiege herunterkommt. Seitdem sie unter einer Katzenallergie leidet, verlässt sie die Wohnung im Obergeschoss ungern. Die Küchentüre bleibt während des Essen geschlossen, damit keine Katze in die Nähe der Mutter kommt. Durch das Küchenfenster sieht man, das ein Auto nach dem anderem wie ein Film vorbeirast, in der Küche läuft dazu der Ton ab. Sie erheben sich vom Küchentisch. Die Mutter geht in ihre Wohnung zurück, der Sohn verlässt das Haus und geht zur Arbeit.
Als Anita aus dem Küchenfenster blickt und ihre Katze Sissi ausgestreckt neben einer Blutspur auf der Strasse liegen sieht, beschließt sie, aus dem Haus an der Fernstraße wegzuziehen.
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Hallo Schlagloch,
gut beobachtet, gut beschrieben, gut geschrieben, wie wir Autoren sagen und eigentlich die einzige Möglichkeit für die Figur, der Misere zu entfliehen – Auszug.
Herzliche Grüße gen Niederösterreich
Buchfinder
schlagloch /
Hallo Georg!
Es freut mich, daß du Zeit hattest, die Geschichte zu lesen. Im Internet sagt man, ist man immer auf “dem Sprung”, von einer Webseite zur Nächsten. Man widmet sich einer Webseite gerade zehn Sekunden lang. Aus diesem Grund habe ich gezögert die Geschichte in mein Blog zu stellen.
Gruss schlagloch. |
Rosenherz (13.8.06 18:17)
Hallo Schlagloch!
Ja, oft sind es nur wenige Sekunden, die sich ein Leser, eine Leserin auf einer Seite aufhält. Ich habe mich entschieden, weniger Seiten aufzusuchen und länger dort zu verweilen. Das fühlt sich gut an.
Liebe Grüße
Rosenherz |
schlagloch /
Hallo Rosenherz,
oft vergeht die Zeit im Internet sehr schnell, man verliert sich in der Fülle.
Gruss schlagloch. |
Windrider (5.12.06 15:43)
Hallo Schlagloch,
danke für dein Mitgefühl in meinem Blog – ich wäre froh gewesen, wenn aus meinem Benny eine Wohnungskatze hätte werden können. So mußte er früh sterben – grüß’ mir deine lieben Katzen!
viele liebe Grüße Windrider |
schlagloch /
Hallo Windrider,
ich weiß nicht was die Katzen mehr schätzen würden, die Freiheit der Natur oder die Sicherheit der Wohnung. Wobei sich unsere Katzen in den Loggien frei bewegen können. Ich hoffe du erholst dich von deinem Schmerz.
Gruss schlagloch. |
jary / Website (1.12.07 09:03)
jim jarmusch in worten… jedenfalls beim ersten mal lesen und von der stimmung her. gefällt mir. wer öfters vorbeischaun… |
schlagloch / Hallo Jary!
Ich musste zuerst nachsehen wer Jim Jarmusch ist. Danke für den Besuch und für die Verlinkung. Ich werde ein “Auge” auf deinen Blog werfen.
Gruss schlagloch. |
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