An einem windigen Herbsttag spaziert Edmund durch die Altstadt, um einen Blick in die Schaufenster zu werfen. Von Süden her bläst der Föhn durch die Straßen und lässt die Temperatur auf fünfzehn Grad ansteigen. In vielen Auslagen kleben schon die Plakate mit Vorschlägen für die Weihnachtsgeschenke, in manchen Schaufenstern hängen glitzernde Kugeln und stehen Weihnachtsmänner im künstlichen Schnee. Die coolsten Werbesprüche sind „Weihnachtneujahr“ oder „Osterhase und Weihnachtsmann trinken einen Cappuccino“. In den Möbelhäusern laden die Weihnachtsmärkte zum Kauf von Christbaumschmuck ein. Die Lichterprobe und der lange Einkaufsabend finden bei zwölf Grad plus statt. Das „Anzünden“ des Christbaumes am Hauptplatz und das Einschalten der Weihnachtsbeleuchtung in der Fußgeherzone sind für Mitte November geplant.
Mitte November beginnt es zu schneien, es ist früher und intensiver als in anderen Jahren, und Edmund hat das Gefühl, dass „Petrus“, der Wettermacher, damit den frühen Start in die Adventszeit, durch die Eröffnung der zahlreichen Adventmärkte, unterstützt. Zum Freihalten der Garageneinfahrt vom Schnee muss er aus dem warmen Geschäftsraum hinaus in das heftige Schneetreiben. Rücksichtslos müllen die Räumfahrzeuge der Straßenverwaltung die Garageneinfahrt immer wieder auf das Neue zu. Der matschige und salznasse Schnee ist schwer zu entfernen und mit viel Kraft verbunden. Seine jugendliche Energie lässt nach und er muss mit den Kräften haushalten. Aus Rücksicht auf die abgenützten Lendenwirbel soll er bei schwerer körperlicher Arbeit vorsichtig sein. In den Berufsjahren haben sich die Lendenwirbel, die Hüft- und Schultergelenke abgenützt und beginnen bei anstrengenden Tätigkeiten zu schmerzen. Vor einigen Monaten ist er in der Nacht durch Hüftschmerzen wach geworden. In seinem Kopf wurde eine Tür in die Unterwelt der Gedanken geöffnet, ein Gewitter ist losgebrochen. Vor seinen Augen ist die Gesundheit, wie eine herabfallende Vase in Scherben zersplittert und die Hoffnung in einem dichten Wald verschwunden. Aus dem Wald ist die Ungewissheit getreten und hat sich zwischen dem Jetzt und dem Lebensende gestellt. Bei diesen Bildern sind in ihm verschiedene Fragen aufgetaucht: Wie wird es nach dem Ausscheiden aus der Arbeitswelt sein, was darf er sich für sein Leben noch wünschen und erwarten, kann er noch etwas Neues schaffen? Edmund ist froh darüber, dass er beim Chor mitsingt und froh über seine Liedkompositionen, welche bei Veranstaltungen aufgeführt und im regionalen Rundfunk gesendet wurden.
Vor zwei Jahrzehnten rechnete Edmund nicht damit, dass seine Drogerie, infolge der Konkurrenz durch immer neue und größere Drogeriemärkte, so lange existieren wird. Gemeinsam mit anderen Geschäftskollegen haben sie jährlich eine Verkaufsaustellung, verbunden mit einem Gewinnspiel und Unterhaltung für Kinder, abgehalten. Damit wurde versucht die Einkaufsstimmung in einer Landgemeinde zufördern und Atmosphäre zuschaffen. Die kaufmännischen Bemühungen waren einem Hamster ähnlich, der in seinem Käfig auf der Stelle tritt. Die üppige Weihnachtsbeleuchtung der Bezirksstadt strahlt in jedes Wohnzimmer der umliegenden Orte. Vor dem Nikolaustag kommen vermehrt Kunden, um sich bei den Düften und Kosmetika beraten zu lassen, manche greifen zu den liebevoll arrangierten Geschenkpackungen. An einem Nachmittag, zehn Tage vor Weihnachten, sitzt Edmund am Schreibtisch im Magazin, vor sich Lieferscheine, Rechnungen und Kassenbelege. Er hat die Absicht sie in das Wareneingangs- und Kassabuch einzutragen. Durch das Fenster blickt er in den Innenhof und kann beobachten, wie der Schnee auf dem Mauersims Zentimeter um Zentimeter wächst. Der Neuschnee drückt die Äste der Sträucher bis zum Boden, die Spitzen haben weiße Hauben bekommen. Die fallenden Schneeflocken strahlen eine Stille aus, die sich bis in das Magazin ausbreitet, an der Vorderseite des Hauses rollt der Nahverkehr vorbei. Die letzte Weihnachtssaison, vor seiner Pensionierung, ist angebrochen. Im Laufe der Jahrzehnte haben sich seine Notenmanuskripte mit den kaufmännischen Aufzeichnungen vermischt, alles wird er fein säuberlich trennen und aus dem Büroschrank entfernen. Den Sitzplatz am Schreibtisch, eine Stätte zwischen Musikberieselung aus dem Verkaufsladen und Innenhof, wird er räumen müssen, für jemanden den er erst kürzlich kennen gelernt hat. Beim Verbuchen der Rechnungen merkt Edmund einen Rückgang bei den Lieferungen, manche der Waren wurden nicht mehr nachbestellt. Der Inhaberwechsel wird einige Veränderungen im Geschäft mit sich bringen. Für Edmund eine gedankliche Entlastung, da er sich nicht um den Einkauf der nächsten Saisonartikel kümmern muss. Im Geschäft ist es die die letzten Monate ruhiger geworden, eine Ruhe die beim Puls spürbar ist. Er hat sein Arbeitstempo reduziert, wie ein Pferd, das sich dem Ziel nähert. Solche besinnlichen Momente gab es wenige, viel öfter Aufregungen und Wutausbrüche. Eine Gelassenheit die er sich für den Tag wünscht, an dem er vom Schreibtisch und vom Verkaufsraum Abschied nehmen wird.
Er versinkt in seinen Grübeleien, die Gräser knicken unter dem Schnee ein und er spürt den seelischen Schrammen nach: Misslungenen Beziehungen, verpatzten Wochenenden, unerfüllten Hoffnungen, gebrochenen Versprechungen, dazwischen kurzfristige Verzauberungen. Die Erlebnisse der Vergangenheit lassen sich nicht mehr ändern, von seiner Zukunft hat er nur ein getrübtes Bild. Die Vorstellungen verschwimmen im Schneetreiben, werden schwächer wie das Tageslicht. Dieses Dösen wird durch ein Klopfen, als würde jemand mit einem Bleistift auf eine Glasplatte ticken, unterbrochen. An die Tür wurde nicht geklopft, er erwartet auch niemanden. Das Klopfen wiederholt sich und Edmund blickt von den Rechnungen auf, zum Fenster, wo die Dämmerung hereinbricht. Ein Vogel, mit einem gelben Brustfleck, hockt auf der Fensterbank und er klopft noch zweimal mit seinem Schnabel an die Fensterscheibe. Der Vogel blickt ihn an und es hat den Anschein, dass er erst wegfliegt, als er sich sicher ist, dass sein Klopfen gehört wurde. Seit Jahrzehnten sitzt Edmund immer wieder auf diesem Platz, noch nie ist es vorgekommen, dass ein Vogel an das Fenster geklopft hat. Wollte der Vogel ihn grüßen, ein Lebenszeichen geben, ein rätselhaftes Verhalten? Er hofft, dass er den Vogel noch einmal sehen wird und versucht ihn durch Vogelfutter anzulocken, der Vogel lässt sich nicht mehr blicken.
In den hektischen Tagen der Vorweihnachtszeit vergisst er den Vorfall, bis er in einer Nacht durch Rückenschmerzen geweckt wird und ihm das seltsame Verhalten des Vogels in den Sinn kommt. Vielleicht wollte ihn der Vogel vor einer Gefahr warnen, auf die anstehenden Aufgaben und Veränderungen die im neuen Jahr auf ihn zukommen aufmerksam machen. Beim Wachliegen fällt ihn dazu der Zwischenfall im Sommer mit den Jungvögeln ein, den es im Hof gegeben hat. Seit Jahren brüteten Vögel in den Sträuchern und im Gestrüpp des wilden Weines, sie wurden dabei kaum von Menschen gestört. Der Innenhof, bedeckt mit weißem Marmorkiesel und in der Mitte zwei Statuen, gehörte zu seinem Rückzugsort für eine geruhsame Stunde. In den Sommermonaten konnte er dabei das Treiben der Vögel beobachten. An einem Sommertag, als er sich zum Zeitunglesen auf die Hofbank hinsetzen wollte, sah er am Boden, bei den Wurzeln des wilden Weines, ein Vogelnest mit drei jungen Vögeln liegen. Sie kreischten und wippten mit den Flügeln und versuchten dem Nest zu entkommen. Vielleicht hatten sie mit ihrer ungestümen Art das Nest ins Schwanken gebracht und sind mitsamt dem Nest am Boden gelandet. Beim Näherkommen piepsten und öffneten sie immer wieder ihre Mäuler, sie waren wohl hungrig und durstig. Er entfernte sich und beobachtete durch das Magazinfenster den Hof, aber das Elternpaar ließ sich nicht blicken. Bei Einbruch der Dämmerung kauerten sich die Jungvögel erschöpft aneinander. Mit einer Pipette versorgte Edmund die Vögel mit Wasser und hoffte, dass, das Vogelpaar in der Nacht wiederkommen würde. In der Nacht wären die Jungvögel eine leichte Beute für eine streunende Katze. Am nächsten Morgen war seine Erwartung, dass er die Vögel im Nest lebend vorfinden würde, klein. Es waren alle da und wieder öffneten sie beim Näherkommen ihre Mäuler. Er versorgte jeden mit ein paar Tropfen Wasser und telefonierte mit dem Tierheim in der nahen Stadt, ob es für die Vögel eine Überlebenschance gibt, wenn er sie in ihre Pflege gibt? „Sie könnten es versuchen“, war die Antwort. Nach Abgabe der „Sturzvögel“ im Tierheim hinterlegte er noch eine Geldspende für ihre Aufzucht.
Im Dämmerzustand, zwischen Wachsein und Einschlafen, wird es ihm zur Gewissheit, dass einer der Vögel ihm mit dem Klopfen am Fenster mitgeteilt hat, wir haben überlebt.
Autor: Franz Supersberger