Ist man im Therapiealltag angekommen stellt sich bald die Situation, wie verhält man sich im täglichen Umgang gegenüber den Anderen? Wer grüßt wen und wird überhaupt gegrüßt? Es erleichtert den Tagesbeginn, wenn man morgens von den ersten zehn Menschen denen man begegnet, mit einem freundlichen Guten Morgen begrüßt wird. Ein freundliches Lächeln, auch wenn man ansonsten im Speisesaal keinen Kontakt hat. Ich habe den Eindruck, dass manches Mal beim Grüßen auf gebrechliche und alte Leute vergessen wird. Gerade diese wissen einen liebevollen Gruß zu schätzen. Die Mühen, welche ihnen die wenigen Therapien bei denen sie mitmachen können bereiten, erkennt man an ihren angespannten Gesichtszügen. In vielen Fällen brauchen sie Krücken oder einen Rollator als Gehhilfe.
Mehrere Tischgespräche fokussieren sich auf die Fortschritte in der Medizin. Jeder hofft auf das eine und andere Wundermittel, welches seine Beschwerden heilen wird. Kaum jemand bilanziert positiv, dass er mit dem Zustand zufrieden ist, wo er gerade körperlich steht. Man spekuliert darüber, es könnte im nächsten Jahrzehnt für eine breite Masse der Bevölkerung möglich sein, die Hunderter Marke zu knacken. Es gilt die nächsten Hungerjahre gesundheitlich durchzustehen und man wird bei den jungen Hunderter dabei sein. Ob dieses medizinische Versprechen eingelöst wird, möglich könnte es sein? Von Seiten der Mediziner gab es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert immer wieder Heilversprechen, diese und jene Beschwerden werden in zehn oder zwanzig Jahren geheilt werden. Erkrankungen wie Grippe, Lungenentzündung und verschiedene Krebserkrankungen werden durch Impfungen ausgerottet. Trotzdem sterben in Europa bis heute viele Menschen an eben diesen Beschwerden. Dabei sind die Heilungschancen in anderen Erdteilen im Erkrankungsfall um vieles geringer. Bei uns kommt es durch die längere Lebenserwartung zu neuen Krankheitsbildern, wie Demenz, Parkinson oder das vermehrte Auftreten von Schlaganfällen und Herzinfarkt.
Sollten wir im nächsten Jahrzehnt die Hunderter Marke knacken müsste sich im Arbeitsleben, im Freizeitbereich wie auch bei den sozialen und gemeinschaftlichen Abläufen vieles ändern. Wo finden Menschen ab siebzig ihren Platz, in eigenen Stadtteilen? Wer darf bei den Aktiven bleiben und wer bekommt eine Schonhaltung in einem Sonderlebenszentrum. Der Umgang mit älteren Mitmenschen müsste ein Pflichtfach in der Schule werden.
Kältekammer